Unter der Erde 

Max Eyth

29. Februar 1882

Nie hat, seitdem die Erde steht, 
Seitdem ihr Steingeripp' erkaltet, 
Des Lebens Odem hier geweht, 
Ein Strahl des Lichts die Nacht gespaltet, 
Noch hat ein Laut sich hier geregt, 
Wo seit Uranfang unbewegt 
Der stumme, starre Tod gewaltet.

Nie drang in diese liefen ein 
Der Gnomen wunderliche Gilde, 
Kein Gold verlockt, kein Edelstein, 
Der diese grauen Massen füllte. 
Kluftloser Fels, demantenhart! 
In der granitnen Nacht erstarrt 
Selbst jeder Sage Luftgebilde.

Dort klopft es jetzt seit Jahr und Tag. 
Senkt doch ein Zwerg, nach altem Rechte, 
Mit ruhelosem Hammerschlag 
Im ew’gen Dunkel seine Schächte? Dort 
kracht’s mit rotem Blitzesschein, 
Mit Donnerschlägen durchs Gestein, 
Als regten sich der Höllen Mächte.

Halbnackte Männer, schweißbedeckt, 
Sind's, die im engen Raum sich drängen 
Um scheue Lämpchen, fast versteckt, 
Umringt von rasselnden Gestängen; 
In Rauch und Pulverdampf erstickt, 
Von Trümmerresten fast erdrückt, 
Die von der Decke drohend hängen.

Ein Bach stürzt in die Felsenkluft 
An einem meilenfernen Raine. 
Das wilde Wasser preßt die Luft, 
Die Luft zermalmt das Felsgesteine. 
Sie fürchtet Gneis nicht noch Granit, 
Und zornig schlägt der Dynamit 
Sich Bahn mit seinem Flammenscheine.

So wühlen sie im Erdenschoß, 
Und unter ihrer Faust zerreißt er. 
Wär's vor dreihundert Jahren bloß, 
Man steinigte die Hexenmeister; 
Ist es nicht Zauberei im Berg? 
Ist es nicht halb Titanenwerk, 
Dies Werk der Zeit und ihrer Geister?

Neun Schritte nur mit jedem Tag 
Gelingt es durch den Gneis zu dringen; 
Und immer härter wird der Schlag 
Und eiserner des Felsens Klingen. 
Geduld! Sie wächst mit jedem Schritt. 
Geduld! Sie bohrt und sprengt euch mit: 
So nur sind Berge zu bezwingen.

Neun Jahre bohrten sie drauflos, 
Durch Sorg’ und Hoffnung, trüb und heiter. 
Es starben in der Erde Schoß 
Die einen; andre bohrten weiter. 
Nur immer zu! Dort unten tief, 
Wo die Geduld der Urwelt schlief, 
Ist sie auch heut noch Grubenleiter.

Da kam's zuletzt, eh' wir's gedacht, 
Es war hohe Zeit für eine Wende! 
Im Nordschacht, kurz vor Mitternacht, 
Zwei Meilen fast vom Tunnelende. 
Seit Jahren war's derselbe Ton, 
Seit sieben Jahren reichten schon 
Die Arbeitsschichten sich die Hände.

Und unsre Stunde war vorbei; 
Die letzten dumpfen Schüsse dröhnten. 
Halbtot, ohnmächtig lagen drei, 
Wir andern warteten und stöhnten. 
Es herrschte Stille ringsumher, 
Die Schwaden qualmten dick und schwer, 
Als ob sie giftig uns verhöhnten.

So lagen wir und fühlten fast 
Den stummen Fürsten aller Toten. 
Die Millionenzentnerlast 
Des Berges drückte uns zu Boden; 
Und noch schlug die erschöpfte Hand 
Hart an die regungslose Wand 
Der Felsen, die Vernichtung drohten.

Da plötzlich bebte durchs Gestein, 
Fern, kaum vernehmbar leis, ein Klingen. 
"Bei Gott, es klopft!" - "Nein!" - "Ja doch!" -"Nein!" 
Mir schlug das Herz, als wollt' es springen. 
‚s ist wieder still. Jetzt hört man's kaum: 
Jetzt wieder; wie im Fiebertraum 
Dem Kranken oft die Ohren singen.

Wir drücken an die Felsenwand 
Den Kopf in atemlosem Lauschen. 
Es knirscht, es knistert. Wo ich stand, 
Hört’ man ein fernes, fernes Rauschen, 
Wie bröckelnder Gesteine Fall. 
Und jetzt - bei Gott, das war ein Knall! - 
Nun möcht' ich nicht mit Fürsten tauschen.

Frisch! Setzt die Bohrer wieder an! 
Was kümmert jetzt uns das Ersticken? 
Und stirbt beim nächsten Schuß ein Mann, 
Er stirbt in siegendem Entzücken. 
Der letzte Schuß! - Hei, wie er kracht! 
In Freudenflammen steht der Schacht. 
Wir wußten ja, es mußte glücken.

Ein schwarzes Loch klafft in der Wand; 
Die Finsternis scheint sich zu regen. 
Und aus dem Loch kommt eine Hand, 
Ein schwarzer Schädel uns entgegen. 
Er schüttelt sich, er schnappt nach Luft. 
In einer fremden Sprache ruft 
Er lachend Bergmannsgruß und -segen.

Und durch die schweren Dämpfe geht 
Ein mächtig ungewohntes Ziehen. 
Ein reiner, duft’ger Hauch durchweht 
Den Schacht, daß uns die Herzen glühen. 
Vollendet ist das große Werk! 
Es saust und rauscht jetzt durch den Berg 
Vom Land her, wo die Myrten blühen.