Bitte seht das nicht nur von der ganz lockeren Seite, die Sache hat auch einen ernsten Hintergrund. Das Folgende ist wieder meine Meinung bzw. meine Erfahrung.
Auch ich „lebe“ nur noch im Netz und bevorzugt in diesem Forum, habe in den letzten Monaten so ziemlich alle persönlichen Kontakte (Ausnahme eine handvoll Kollegen und die auch nur im Job) abgebaut. Verblieben sind auch ein paar Telefonkontakte, die früher mal eine schwere, langanhaltende Krise hatten, z. B. Alk oder Psychopharmaka.
@Oberkaffeetante: Ich mach auch Modellbau, drüben bei den Inventorianern.
Hier ein paar Aussagen der Dame aus dem Link im Eingangsposting:
„Die psychisch gestörten Menschen legten ein krankhaftes Verhalten mit suchtähnlichem Charakter an den Tag, das in Zusammenhang mit depressiven Verstimmungen und mit einem Gefühl der Einsamkeit stehe.“
Das ist ein Vorurteil, mit dem sie ans Werk geht, schiebt den Leuten schon mit der dialektischen Fragestellung eine behandlungsbedürftige und behandlungsfähige Krankheit unter. Da ist nichts krankhaftes dran, das ist die Konsequenz von Ursachen.
Es ist Durcheinander, sie bräuchte sich nur mal die Jerry-Jacobs-Suizid-Studie aus den 70ern durchlesen. Die Leute sind nicht „gestört“, sondern wesentlich sensibler als andere und zu mehr Eigenkritik fähig, es mangelt an Selbstwertgefühl, um über den Dingen stehen zu können.
Einsamkeit und Depressionen sind Sekundärkonsequenzen.
Die „Sucht“ ist eine Sehnsucht nach Kommunikation mit anderen Leuten.
Langanhaltende Problemgeschichte, die sprunghafte Häufung von Problemen und letztlich die Erkenntnis, daß der Betroffene selbst mit eine der Ursachen seiner Probleme ist, führt in der vorletzten Phase zum sogenannten physischen Rückzug. Ersatzweise geht der heutige Betroffene in einer Zwischenstufe dann sehr viel ins Internet, kompensiert dort seine Leere, kann hier durchaus erfolgreich für einen begrenzten Zeitraum sein Kommunikationsdefizit ausgleichen. Bis er sich auch dort zurückzieht. Es ist dann nur zu hoffen, daß er wenigstens den Weg in die Foren zurück findet, bevor er in der letzten Phase zusammen mit einer notwendigen Situationskausalität die Notbremse zieht.
„Charakteristisch für die Gruppe der pathologischen Nutzer sei zudem eine Bevorzugung der Kommunikationsangebote wie Chats oder Foren.“
Eben, weil hier die Möglichkeit der Restkommunikation mit der des Rückzugs kombiniert werden kann und das Fortschreiten der Depressionen zwar nicht verhindert, doch immerhin verlangsamt. Man kann mit anderen Leuten sprechen, ohne diese hören und sehen zu müssen, also eine Reduktion auf den reinen Sachanteil der Information. Die Distanz und das Bewusstsein, daß keiner weiß, wo man sich selbst befindet, wie man aussieht, verschafft ein Gefühl der Sicherheit, ohne das auch die Foren- oder Chatkommunikation nicht in Frage käme.
Diese Kommunikationsform erlaubt zudem eine Korrektur der Aussagen, einen längeren Überlegungszeitraum, ein „in die Ecke gedrängt werden“ kommt seltener vor, es bietet sich die Möglichkeit von Ersatzerfolgserlebnissen.
Auf Seiten, auf denen man nur lesen kann, kann man sich nicht mitteilen, auf Einträge in Gästebücher gibt es kein Feedback, um das es eigentlich geht. Daher Chats und Foren, dort gibt es das Feedback.
„Die pathologischen Internetnutzer seien wöchentlich etwa 32 Stunden online und mehrheitlich im sozialen Leben stark verunsichert.“
Bis hin zur Paranoia, die das Ergebnis einer ganzen Reihe von negativen und z. T. individuell emotional sehr schrecklichen Erfahrungen ist. Interessant ist, daß nur die negativen Erfahrungen akkumuliert werden, die durchaus positiven und damit potentiell die negativen kompensierenden jedoch unterbewertet bis verdrängt. Das reale Leben wird schrittweise vermieden, was letztlich ein Erfahrungs- und Verhaltensdefizit zur Folge hat, weitere Verunsicherung. Man verlegt weitestgehend das „Leben“ in die Nacht, verschwindet vollständig aus dem sozialen Gefüge des Wohnorts, dessen Bewohner als reale Bedrohung empfunden werden.
Weil man keine Kontakte zur Aussenwelt mehr hat, benimmt man sich infolge des Erfahrungsdefizits unbewusst und unbeabsichtigt daneben, gibt sich Wunschvorstellungen hin, kassiert Zurechtweisungen weiß bald überhaupt nicht mehr, wie man sich korrekt verhalten soll, hockt also apathisch und eigentlich ängstlich nur noch in einer Ecke, würde sich am liebsten verkriechen und hofft, daß alles möglichst schnell vorbei ist, man wieder allein sein kann im Netz, weil es von dort nicht soviel Verhaltenskritik hagelt.
Wird man gleich zu Anfang in einem Forum auch nur kritisiert, erfüllt es seinen Zweck nicht, man geht umgehend wieder, sucht nomadenhaft weiter.
Der Wunsch nach Kontakt zu anderen Leuten und die Angst vor weiteren Verletzungen stehen sich konträr gegenüber, die Angst überwiegt.
Hieraus resultiert nicht ein Gefühl der Vereinsamung, sondern eine reale Vereinsamung und diese verursacht in weiterer Folge längerfristig irreparable Schäden.
Man erlebt sich selbst als verwundetes Tier, das nur noch sehr begrenzt an eine mögliche Heilung glaubt oder auch diese Hoffnung bereits aufgegeben hat, reagiert im Realleben zunehmend ablehnend und distanziert, auch auf Personen, die tatsächlich konstruktive Hilfe leisten möchten, Flucht nach Phantasien.
„Doch es gibt Hoffnung: Kratzer erwartet von einer Therapie der Grunderkrankung auch eine Linderung der Internetsucht.“
Das ist nur berufsideologische Werbung. Therapeuten ebenso wie ihre eigenen Ausbilder sind in der Regel nicht ausreichend ausgebildet, haben zu oft finanzielle Eigeninteressen, können günstigstenfalls vorübergehend eine andere Wahrnehmung einreden, die sich jedoch in der realen Welt sehr schnell wieder auf den früheren Stand zurückbewegt, letztlich also ein Herumdoktern an den Symptomen mit den Fähigkeiten göttergläubiger Medizinmänner, ohne letztere jetzt abwerten zu wollen.
Therapie ist derzeit das Zauberwort, der Therapeut soll halt das Betriebssystem neu aufspielen, dann ist der Betroffene ein „normaler“ Mensch, sofern er diese Bezeichnung noch in Anspruch nehmen darf. Und wenn’s nicht klappt oder geht, dann eben Psychiatrie oder Sicherungsverwahrung, medikamentöse Ruhigstellung.
Derzeit geht der Trend zur gewaltsamen Lösung, was nicht „normal“ ist, ist unnormal und wird verboten, moderne Formen dessen, was früher Internierungslager waren, sind als humane Wohltaten deklariert angedacht.
Mir werden häufiger gute Ratschläge zuteil, sogar vom Trachtenverein, mach ne Therapie, geh in eine Selbsthilfegruppe usw. usf. Letztlich aber alles nur ein Ausdruck von Hilf- und Ahnungslosigkeit.
Sog. Selbsthilfegruppen können in der Praxis nichts bewegen, bieten nur die öffentliche Zielscheibe, man bietet sich dem Haifische buchstäblich zum Lunche an. Und zu den Therapien ist auch längst landläufige Meinung, daß Wolf eben Wolf bleibt, auch wenn er grade mal keinen Appetit auf Schafe hat.
Für die Gründung von CAD.DE hätten AlbertR und Hr. Berlitz eigentlich ein Bundesverdienstkreuz mehr als verdient, es ist doch egal, wie lange man hier ist, wenn die Aussenwelt für Minderheiten als Alternative mangels Kompromissbereitschaft vollständig ausfällt, dann ist man eben mehr hier oder in ein oder zwei Nachbarforen und fühlt sich hier wohl, dazu muß es diese Orte auch geben. Das hilft und bewirkt mehr als jede Therapie und kostet zumindest das Mitglied nichts, andere „normale“ User haben – hoffe ich mal – auch noch Vorteile daraus.
Wie gesagt, meine persönliche Erfahrung und so wie sich die Sache für mich darstellt.
[Diese Nachricht wurde von murphy2 am 05. Sep. 2006 editiert.]
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